zuletzt aktualisiert am 09.04.2012

Von wegen heile Welt

Müsste mensch Erfurt so knapp wie möglich beschreiben, liegen Adjektive wie ruhig, bürgerlich, idyllisch, spießig, überschaubar nahe. Den Besucher_innen wird in der historischen Innenstadt ein idyllisches, provinzielles Bild vermittelt, das romantisch verklärte Mittelalter-Klischees wachruft. Sie präsentiert sich mit engen Kopfsteinpflastergässchen und etlichen Plätzen, die zumeist von hübsch sanierten Fachwerk-, Bürger- und Handelshäusern begrenzt werden. Während des jährlich stattfindenden Krämerbrückenfestes verwandelt sich Erfurt endgültig in ein belebtes Disneyland für Hofdamen und Ritter, in ein "heile-Welt-Städtchen". Und auch sonst scheint das Leben hier gemächlich und geordnet vor sich hin zu plätschern, gleich der Gera durch den Stadtkern.

Vor diesem Hintergrund wirkt der BUKO-Kongress wie ein krasses Kontrastprogramm. Für "Under Pressure - Krisen, Kämpfe, Transformationen" mag Erfurt kaum Anschlussmöglichkeiten bieten. Hier ist die bürgerliche Welt noch in Ordnung, könnte mensch meinen, zumindest bei einem ersten, oberflächlichen Blick auf die Stadt.

Risse in der Fachwerkfassade

Aber es gibt auch ein anderes Erfurt, das sich an der bürgerlichen Fassade der Innenstadt stößt, sich mit den bestehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen nicht abfinden will und ein anderes, solidarisches und freiheitliches Leben sucht. So war bereits nach der Wende eine aktive Hausbesetzer_innenszene in der Stadt aktiv. Nach mehreren Besetzungen, die bereits im Sommer 1989 begannen, fand das AJZ (Autononomes Jugendzentrum) 1991 seine Heimstätte in der Vollbrachtsstraße und ist bis heute dort. Es folgten weitere Besetzungen und Räumungen in den 1990ern. 2001 bezogen Aktivist_innen das ehemalige "Topf-und-Söhne"-Gelände. Bis zur Räumung im April 2009 gab es dort das Hausprojekt "das besetzte Haus", in dem kulturelle und politische Veranstaltungen, Gruppen von Aktivist_innen und vieles mehr Platz fand.

Heute findet sich im VETO eine Einrichtung, in der vor allem politisch engagierte Menschen tätig sind. Hier sind etliche Gruppen anzutreffen, dazu gehören ein Umsonstladen, eine queer-feministische Gruppe, das Bildungskollektiv (BIKO) und viele andere. Mittlerweile gibt es in Erfurt auch wieder ein Hausprojekt namens Wohnopolis. Mehrere Menschen schlossen sich zusammen, um mit Hilfe des Mietshäusersyndikats ein Wohnobjekt zu kaufen. Neben günstigen Wohnraum wird es - wenn erst die Sanierungsarbeiten abgeschlossen sind ? der interessierten Öffentlichkeit eine Nutzung im Erdgeschoss bieten. Weitere wichtige Institutionen sind das selbst verwaltete kommunale "Radio F.R.E.I.", das gewerkschaftliche Jugendbüro Filler und die "Offene Arbeit", welche bereits vor der Wende als Ort der kirchlichen Dissidenz genutzt wurde. Auch über die hier kurz aufgezeigten Einrichtungen und Gruppierungen hinaus, ist in Erfurt eine vielfältige linke Szene von der Antifa bis zu den Falken aktiv, die sich vor allem durch ihre breite und gute Vernetzung auszeichnet.

Welche Krisen, welche Kämpfe?

Während der 1990er wurde die historische Innenstadt in Erfurt umfassend saniert. Die Investor_innen dürften, dabei vor allem die Geldbeutel der Tourist_innen im Visier gehabt haben. Auch die Kommune ist darauf bedacht, diese Zielgruppe in die Stadt zu locken. Dabei gilt es ein positives Stadtbild zu generieren und störende Elemente aus der Innenstadt zu verbannen. Beispielsweise würden Betrunkene in der Innenstadt, so die Logik von Einzelhandel und Politik, das Stadtbild negativ beeinflussen. Und so verbietet die von Oberbürgermeister Bausewein im Sommer 2008 umgesetzte Stadtordnung es dementsprechend alkoholtrinkend im Innenstadtgebiet zu verweilen.

Allerdings gilt das Alkoholverbot weder für den Konsum in Gaststätten, Bars, Nachtclubs noch für den Alkoholausschank während diverser Stadtfeste. Hier darf munter weiter getrunken werden. Daher liegt die Vermutung nahe, die Stadt will nicht den Alkoholkonsum und seine Folgen als solche verbannen, sondern es geht vor allem darum, bestimmte Gruppen von Alkoholkonsument_innen aus dem Zentrum zu vertreiben. Im Fokus sind die linksalternative Szene hinter der Krämerbrücke, Obdachlose und andere Menschen, von denen sich, nach Ansicht der Kommune, Tourist_innen gestört fühlen könnten, da sie Alkohol im öffentlichen Raum konsumieren. Weitere Absurditäten aus dem Katalog der "Law-and-Order"-Politik gefällig? Es gibt ein Verbot, "verwilderte Tauben" zu füttern oder Bäume zu besteigen. Wie das Ordnungsamt wohl reagieren würde, sollte jemand im Stadtzentrum auf einem Baum sitzend mit einem Sterni in der Hand Tauben füttern? Die Stadt soll ruhig und sauber bleiben, damit niemand des Klischees vom idyllischen Erfurt beraubt wird und das Kapital in der Innenstadt weiter ungestört akkumulieren kann. Das "Unternehmen Stadt" lässt grüßen!

Ein weiterer gewünschter Effekt der Stadtpolitik der aber ein Problem für Bewohner_innen darstellt: Gentrifizierung! Während der 1990er und zu Beginn des neuen Millenniums sah sich die Kommune mit signifikanten Abwanderungen konfrontiert. In diesem Zeitraum wurden zunehmend Immobilien "zurückgebaut". Mittlerweile ist allerdings die Nachfrage vor allem nach innerstädtischem Wohnraum wieder deutlich angestiegen. Dadurch werden zunehmend finanzschwache Mieter_innen in die Plattenbausiedlungen am Stadtrand gedrängt, weil sie die erhöhten Mieten in ihren Innenstadtbereichen nicht mehr leisten können. Wenn Profit und Marktlogik über den Immobilienmarkt regieren, wird es außerdem immer schwieriger autonome Räume zu beanspruchen und zu halten

Erfurt goes BUKO

Eine restriktive Kommunalpolitik, Gentrifizierungsprozesse und vieles andere mehr machen es auch in Erfurt schwierig, ein freies selbst bestimmtes Leben zu gestalten. Menschen, die sich dies wünschen, geraten unter Druck, versuchen sich zu wehren und versuchen, Alternativen zu entwickeln. Damit lassen sich die Kongress-Schwerpunkte Krisen, Kämpfe, Transformationen auch auf die Situation vor Ort beziehen. Wir fragen uns: Welche Krisen sind lokal wahrnehmbar, welche Kämpfe gibt es oder sollte es geben, welche Transformationen erscheinen lokal möglich?