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Was ist die EU?

» Eine aufstrebende Supermacht mit einer ausgefeilten Strategie, deren Mittel zur Herrschaftssicherung von der freundlichen Einbindung der Zivilgesellschaft bis hin zu nackter Gewalt reichen?

» Ein Projekt der Eliten, in dem die Macht noch weit ungleicher verteilt ist, als in den Einzelstaaten und Politik unter Ausschluss der Gesellschaft gemacht wird?

» Oder "ein Getriebener", ein komplexes Gebilde aus einer Vielzahl von Einzelinteressen, das nur mit Glück zu einer Entscheidung findet und auf Konkurrenzdruck, Krisen, Migration, militärische Konflikte mit mehr oder weniger zufälligen Entwürfen reagiert?

In jedem Fall gewinnt die Europäische Union als politischer Raum an Bedeutung. Schon heute werden zentrale Entscheidungen im Rahmen der EU gefällt. Mit dem Vertrag von Lissabon wird die Relevanz der EU weiter zunehmen. Europäische Politik wird dabei weniger durch Gesetze gemacht, als durch Dialog, Partnerschaft und Konsens. Die EU verfügt über keine Polizei, führt aber Datenbanken über verfügbare Beamt_innen, koordiniert deren Zusammenarbeit und vermittelt "best practices". Die EU stellt keine Armee auf, entwirft aber militärische Strategien und beschließt europäische Einsätze in Einstimmigkeit. Die EU ist kein Staat, sondern ein zivilgesellschaftliches Projekt - eine Neustrukturierung europäischer Eliten in einer postnationalen Konstellation.

Global Europe?

Anders als die NATO (wenn auch mit denselben Soldat_innen) führt sie keinen Krieg (wo Sterben und Töten zum Alltag gehört), sondern betreibt Krisenmanagement (wo Sterben und Töten die alltägliche Ultima Ratio ist). Unter dem europäischen Sternenbanner patrouillieren deutsche Polizeisoldat_innen auf dem Balkan, belgische im Kongo und französische auf Haiti. Die EU erklärt Provinzen zu Staaten, Bürgerkriegsparteien zu Regierungen, Bandit_innen zu Polizist_innen und rüstet diese aus. Das heißt zugleich, dass sie Fischer_innen als Pirat_innen, Clans als Aufständische und Jugendliche als "Migrationsdruck" begreift, ausforscht und bekämpft. Hierzu dienen ja die Staaten, Regierungen und Polizeien, die sie ohne die Zustimmung der betroffenen Bevölkerung aufbaut und legitimiert, wie sie auch sich selbst aufbaut und legitimiert. Durch die "Global Europe"-Strategie, in deren Rahmen seit 2006 weltweit Freihandelsabkommen abgeschlossen werden (sollen), versucht die EU außerdem, den globalen Süden in neoliberale Abhängigkeitsverhältnisse zu bringen. Es entstehen supranationale Verträge, die nationales Recht brechen und die den neoliberalen Kurs auf Jahrzehnte hinaus festschreiben.

Dennoch verfolgt die EU in verschiedensten Weltregionen unterschiedliche Interessen und trifft dort jeweils auf unterschiedliche Akteur_innen und Widerstände. Das muss bei der Analyse der EU-Politiken bedacht werden, um diese jeweils kritisieren und bekämpfen zu können; eine allgemeingültige Formel gibt es nicht. Die Machtverhältnisse zu vielen afrikanischen Staaten etwa unterscheiden sich stark von jenen zu asiatischen "Schwellenländern"; die Hauptinteressen in Aserbaidschan sind andere (vor allem Öl und Gas), als die in Nordafrika (Migrationskontrolle).

Wer beherrscht die postnationale Konstellation?

Die Vision der europäischen Eliten definiert sich grundsätzlich

1. durch den ungehinderten Zugang zu den Ressourcen weltweit, zu denen mittlerweile nicht nur Öl und Erz, sondern auch Flüsse, Seen, Wälder, Wind und Sonnenschein zählen;

2. durch den sicheren Transit, Bahnhöfe, Flug- und Seehäfen sowie Schifffahrtswege;
3. durch Zonen, zu denen der Zugang begrenzt ist und die vor den Verwerfungen, die aus der weltweiten Ausbeutung hervorgehen, geschützt bleiben;

4. durch eine "aktive Beschäftigungspolitik" durch die möglichst viele Menschen in kapitalistische Lohnverhältnisse gedrängt werden sollen. Die deutsche Umsetzung dieser "Lissabon Strategie für Wachstum und Beschäftigung" war die Agenda 2010.

Unsere Perspektive für eine postnationale Konstellation sieht ganz anders aus. So war die EU auch schon auf den BUKO-Kongressen der letzten Jahre ein zentrales Thema. Diesen Prozess der Kritik gilt es weiterzuführen, perspektivisch zu weiten und gegebenenfalls auch bisherige Vorstellungen über die EU zu revidieren. Wie können Interventionen in Europas Politik aussehen? Wie steht es um die Vernetzung von Bewegungen in unterschiedlichen europäischen Staaten? Wie können diese voneinander lernen und zusammen agieren?

Es gilt, das europäische Herrschaftsprojekt zu delegitimieren und unsere Innenperspektive auf die EU durch eine internationalistische Perspektive zu ergänzen. Hierfür eignet sich der Verweis auf die kolonialistischen Kontinuitäten in der europäischen Außenpolitik. Wir hoffen, damit an die zahlreichen Abwehrkämpfe gegen europäischen Zugriff anknüpfen zu können und hieraus gemeinsam eine eigene Vorstellung einer postnationalen Konstellation zu entwickeln und für diese zu kämpfen - 125 Jahre nach der Berliner Afrika-Konferenz.

 

Wer bekommt den Fisch?

Der Fisch ist frei. Er hat keine Nationalität und kennt keine Grenzen. Er weiß auch nicht, dass er eine Ware ist, wie er dazu wurde und was das bedeutet.

Wenn ein Fisch der Küste zu nahe kommt, kann es sein, dass er gefangen wird. Der Fisch hat kein Konsulat und keine Rechte, deshalb kann er gefangen und gegessen werden. Natürlich wurde er schon immer auch gehandelt, aber primär war er ein Grundnahrungsmittel für die Küstenbewohner. Bis er die Märkte im Hinterland erreichte, hat er schon gestunken und deshalb wurde nur so viel gefischt, wie die Küstenbewohner essen konnten, bevor der Fisch anfing zu stinken.

Doch heute kann der Fisch überall gefangen und weltweit gehandelt werden. Und er wird dort gefangen, wo es am billigsten ist: dort, wo die Küstenbewohner kein Konsulat und keine Anwälte haben. Und er wird von denen gefangen, die über die beste Technologie, die besten Konsulate und die besten Anwälte verfügen. Deshalb kommt kaum noch ein Fisch an den Küsten Somalias an.

Die Küstenbewohner sind hungrig und wütend. Viele verlassen das Land, ohne Nationalität überschreiten sie Grenzen, einige stranden in der Wüste, einige werden eingesperrt und andere versklavt. Sie haben kein Konsulat und keine Anwälte. Andere wollen den Fisch für sich zurückerobern. Sie packen Leitern und Gewehre in ihre Boote, kapern Schiffe und erheben Steuern. Da sie keine Grenzen kennen, keine Regierung haben und keine Uniformen tragen, heißt diese Steuer Lösegeld und sie werden als Piraten bekämpft.

Denn die Länder, aus denen die schwimm-enden Fischfabriken stammen, schicken nicht nur ihre Kriegsschiffe. Sie schicken auch Diplomaten, Ausbilder und Wissenschaftler. Sie wollen Somalia helfen, eine neue Regierung zu bilden sowie Sicherheitskräfte, die bestimmen, wer Fisch fangen darf und wer nicht ? gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft, welche Fischbestände registriert und Nachhaltigkeitskriterien definiert.

Es geht um alles oder nichts. Die neue Regierung steht im Dienste der Anwälte, Konsulate und Wissenschaftler der internationalen Gemeinschaft. Viele greifen zu den Waffen, kämpfen dafür, als relevante Konfliktpartei in die neue Regierung eingebunden zu werden. Die es schaffen, bekommen von der internationalen Gemeinschaft Uniformen und werden von ihr ausgebildet. Sie sind keine Piraten mehr, sondern eine Küstenwache. Doch solch ein Bürgerkrieg ist teuer und lockt allerlei Gesindel an: von offiziellen und inoffiziellen Waffenhändlern über private Sicherheitsfirmen und UN-Soldaten bis hin zu Glücksrittern, Sektenführern und Revolverhelden; vom World Food Program über Maersk; bis zu Toyota; von der Bundeswehr über die US-Marine bis zu iranischen Zerstörern. Müssten die schwimmenden Fischfabriken das alles selbst bezahlen, würden die Fischgründe vor Somalia zu teuer und sie würden weiterziehen. Aufstand und Bürgerkrieg hätten eine Funktion erfüllt, die ihnen im Weltmarkt zukommt: als eine Art Kriegssteuer gegen die Ausbeutung der gesellschaftlichen Reichtümer durch ?externe? Akteure. Das ist beim Öl nicht anders und wird beim Wüstenstrom ?Desertec? nicht anders sein.

Nehmen wir an, die Sache wird zu teuer, die Fischfabriken und mit ihnen die Soldaten, Ausbilder, Diplomaten und Wissenschaftler ziehen weiter, vor die Küsten des nächsten ?gescheiterten Staates? ? dorthin, wo einer der nächsten Bürgerkriege ausbrechen wird. In Somalia bleiben die Kriegsunternehmer und das World Food Program, die zukünftig bestimmen, wer wie viel Fisch fangen darf und wer wie viel Reis bekommt. Für viele ein einträgliches Geschäft, doch auf die Dauer keine Lösung.

Nehmen wir an, alle legen ihre Waffen nieder und beginnen zu verhandeln: Wem gehört das Land, wem gehört das Wasser und wer darf wie viel Fisch fangen? Und: Darf mensch Fisch überhaupt fangen?