» english    » francais    » deutsch    » español    » türkçe
 

Jetzt erst Recht

Rechte, Partizipation, gar Demokratie – diese Begriffe sind zu tragenden Säulen staatlicher Herrschaft aufgestiegen. Ihre jüngere Geschichte ist eng verbunden mit der Geschichte und Funktionsweise kapitalistischer Gesellschaften. Sollte die radikale Linke also lieber die Finger von diesen Begriffen lassen?

PRO: Recht und Radikalisierung

Es gibt gute Gründe, sich die Hände „schmutzig“ zu machen. Nicht allein haben Forderungen nach Rechten und Partizipation eine längere Geschichte. Auch ist nicht nur eine taktische Bezugnahme auf bestehende, wie auch immer unzureichende Rechte gemeint. Dafür, sich als radikale Linke die Begriffe anzueignen, spricht darüber hinaus auch:

(a) Der politische Diskurs kreist maßgeblich um Demokratie und Menschenrechte, in dieser Sprache sollte sich auch die radikale Linke verständlich machen können. Sich auf diese Begriffe zu beziehen, könnte einen Weg aus der öffentlichen Marginalität der radikalen Linken weisen.

(b) Zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Rechtsbegriffs liegen Welten. Die Widersprüche des Rechts immanent zu kritisieren, ihre Ansprüche gegen die materielle Wirklichkeit ins Spiel zu bringen und über diese hinaus zu treiben, kann zu einer gesellschaftlichen Radikalisierung beitragen.

Warum „Rechte“?

Rechte sind Ausdruck und Festschreibung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Kein Ka-pitalismus ohne Recht auf Privateigentum, kein marktlicher Tausch ohne seine rechtliche Regulierung. Und: bürgerliche Rechte sind untrennbar verknüpft mit dem nationalstaatlichen Gewaltmonopol. Rechtsverhältnisse sind also, potenziell, Gewaltverhältnisse. Doch: Rechte sind in ihrer konkreten Ausgestaltung immer auch Ergebnis sozialer Kämpfe. Der Kampf um Rechte war eine zentrale Strategie der westlichen ArbeiterInnen- und der Frauenbewegungen. Und für soziale Bewegungen im globalen Süden ist es (noch immer) selbstverständlich, mit dem Begriff der Rechte zu operieren: Recht auf Land, Recht auf politische Meinungsäußerung, Recht auf elementare Menschenrechte.

Wie selbstverständlich viele Rechte gerade in den „Wohlstandsgesellschaften“ des Nordens geworden sind, zeigt sich jetzt, da sie wieder massiv in Frage gestellt werden: Abwehrrechte gegen staatliche Einmischung und Repression werden durch die weltweite Ausweitung von Sicherheitsgesetzen unterhöhlt; wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte geraten durch Sozialabbau und Ethnisierung von Konflikten unter Druck; politische bzw. Teilhaberechte spielen in bürokratischen und internationalisierten governance-Strukturen, bei gleichzeitig zunehmend repressiv agierenden Nationalstaaten, ein zunehmend marginale Rolle.

Diese Tendenzen der Entrechtung werden auch von der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht übersehen. Grund genug für eine radikale und internationalistische Linke, diese Diskussion nicht „rechts“ liegen zu lassen.

Die Rechte der Anderen

Rechte sind Ansprüche, die alle Menschen stellen und von „den Anderen“ einfordern können. Ein Großteil gewährter Rechte ist jedoch an die Staatsbürgerschaft gebunden, auch die prinzipiell vorstaatlichen Menschenrechte sind in ihrer Anerkennung und Durchsetzung auf Nationalstaaten angewiesen.

Die Tendenz ihrer Verallgemeinerung ist aber in der Struktur von Rechten angelegt: Vor dem Gesetz sind alle gleich. Zwar ist diese Fiktion der Gleichheit eine der großen Lügen der bürgerlichen Gesellschaft: Neben der Exklusivität der Staatsbürgerschaft macht die Existenz sozialer Klassen, und die damit verbundene ungleiche Ressourcenverteilung, politische Rechte zu einem Privileg der Wenigen.

Aber: Der dem Recht inne wohnende Widerspruch zwischen der prinzipiellen Gleichheit aller und den faktischen sozialen, kulturellen, individuellen Unterschieden lässt sich radikalisieren: Der moralische Anspruch der bürgerlichen (Grund-)Rechte – „den Anderen immer als Zweck zu sehen und niemals als Mittel“ (Kant) – kann als Messlatte an den Rechtsstaat angelegt werden. Rechte erweisen sich dann an den Marginalisierten, Fremden, „Nutzlosen“. Im Sinne dieses Anspruchs und gegen die rechtliche Praxis kann somit frei nach Luxemburg ins Feld geführt werden: Rechte sind immer die Rechte der Anderen.

Point of no Return

Ein weiteres emanzipatorisches Element von Rechten ist die Absicherung und Festschreibung des einmal Erkämpften. Zwar müssen Rechte immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden. Dennoch bilden sie im Alltag eine Referenz, oft auch eine Garantie, einmal legitimierte Ansprüche durchsetzen zu können.

Eine radikale Linke kann dies nicht dem Staat überlassen. Die Innovation der Diskussionen um Globale Soziale Rechte (GSR) gegenüber dem Menschenrechtsdiskurs ist ja gerade, sich die Rechte im Alltag, selbstbestimmt, anzueignen. Aneignung heißt, sich selbst das Recht zu nehmen, ihren Gehalt umzudeuten, an die eigene Lebensweise anzupassen, die Modalitäten im Umgang mit Rechtsansprüchen festzusetzen – und dabei nicht den staatlichen Verfahrensweisen zu überlassen.

Dennoch: Das Vertrauen auf Solidarität bzw. auf benachteiligte Einzelne und Gruppen, sich ihre Rechte (immer wieder) zu erkämpfen, kann eine wie auch immer eingeschränkte staatliche Rechtsgarantie nicht ersetzen. Das individuelle oder kollektive „do it yourself“ führt zu neuen Ungleichheiten. Dabei sind diejenigen im Vorteil, die das Kämpfen, das Sich-Organisieren bereits gelernt haben. Wenn das Recht als staatszentriert bzw. gewaltförmig und herrschaftlich abgelehnt wird, wie kann dann eine Linie der erkämpften und gesellschaftlich anerkannten Ansprüche gezogen werden, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann? Denn: Was ist emanzipatorisch an einer Gesellschaft, in der sich jedes Recht jeden Tag aufs Neue erkämpft werden muss?

Globale Soziale Rechte und Teilhabe

Wahrhaft liberal, so ließe sich den Herrschenden entgegen rufen, ist es, soziale Rechte zu garantieren. Die Forderung, die ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen menschlicher Existenz nicht als Privatsache, sondern als politisch zu behandeln, trifft die liberale Widersprüchlichkeit im Kern.

Die Anerkennung ökonomischer, kultureller und sozialer Rechte ist längst common sense im Menschenrechtsdiskurs, nicht jedoch in der dominierenden öffentlichen Diskussion, schon gar nicht in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Hier kann eine radikale bzw. radikalisierende Bezugnahme auf GSR ansetzen und die halbherzige, bloß im Sinne „politischer Freiheiten“ gemeinte Beschwörung von Menschenrechten über sich selbst hinauszutreiben. Forderungen nach und die Aneignung von politischen, vor allem aber sozialen und kulturellen Rechte könnten dann zum Konvergenzpunkt unterschiedlichster und weltweiter sozialer Kämpfe werden.

Die Verwirklichung von GSR hieße dann: Selbstbestimmung sowie Partizipation aller an gesellschaftlichen Entscheidungen. Teilhabe kann nicht (nur) bedeuten, Menschen in bereits festgelegte, meist staatliche, Aushandlungsmechanismen zu integrieren. Teilhabe in einem radikalen Sinne hieße: die materiellen Bedingungen dafür zu schaffen, die eigene Stimme erheben und politisch handeln, sich organisieren zu können. Der Diskurs um Rechte bietet in all seiner Widersprüchlichkeit die Ansatzpunkte, in diesem Sinne radikal zu intervenieren, und Verbindungen zwischen einer Vielzahl weltweit stattfindender Kämpfe zu schaffen. Warum darauf verzichten?


Contra: Ent-Rechtlichung statt Einrichten im Ist-Zustand

„Somit ist es kein Zufall, dass sich diese vom Wortlaut her zwar ‚universellen’ Deklarationen doch nur darauf beschränkten, eine europäische Ordnung wiederherzustellen und ...Weiße Europäer/innen letzten Endes vor sich selbst zu schützen.“

Interview mit Gaston Ebua, The VOICE Refugee Forum

Recht schützt nicht die Ausgegrenzten, sondern schafft sie erst. Die Rechtsordnung hat dabei einerseits den Charakter eines flexiblen, ausdifferenzierten Systems – wie sich bspw. in den vielfältigen Ausschlüssen von Flüchtlingen zeigt – sowie andererseits den einer Ordnung zur Durchsetzung (angeblich) unveräußerlicher Rechte. Diese Rechte gelten jedoch prinzipiell nur, wenn sie von einer übergeordneten Macht garantiert werden.

Recht ist also immer an seine Durchsetzung gebunden. Nicht die einzige, aber die typische Kernform von Recht ist das national- oder suprastaatlich sanktionierte Gesetz, bei dem der Staat oder eine überstaatliche Instanz („die Staatengemeinschaft“) diese Macht darstellt. Für eine Rechtsordnung ist es konstituierend, dass sie, um (auf etwas) anwendbar zu sein, sich auf etwas beziehen muss, wie ein Territorium, eine zu definierende Personengruppe, etc. Und innerhalb dieser Logik sind (staatlich gesetzte) Rechte Einschlüsse, entlang denen ausgeschlossen wird (etwa in der Form des Ausschlusses von Nicht-StaatsbürgerInnen, da Recht für diese nicht gilt oder sie unter „Sonderrecht“ fallen). Darüber hinaus greift Recht regulierend und „normalisierend“ ein: bspw. in Geschlechterverhältnisse oder Lebensvorstellungen – indem hier ein Verhältnis als „Scheinehe“ oder „Bedarfsgemeinschaft“ definiert wird oder in das Leben der ALG-II-EmpfängerInnen eingegriffen wird, wenn diese zum Umzug gezwungen werden. Das Ziel kann also nicht eine weitere Verrechtlichung, sondern müsste im Gegenteil „Ent-Rechtlichung“ sein. So ist beispielsweise globale Bewegungsfreiheit nicht als Recht vorstellbar. Denn: Hier geht es um offene Grenzen, um die nicht-regulierte Bewegung (die kein Staat „garantieren“ kann), nicht um eine allgemeingültige Festschreibung, wer Grenzen überschreiten darf, wer bleiben darf, nicht um eine Definition, wer „Flüchtling“ ist. Tatsächliche Bewegungsfreiheit wäre also damit ein Zustand – kein Rechtszustand.

Rechtssicherheit?

Recht verweist in der Regel auf eine staatliche Instanz zu dessen Durchsetzung. In konkreten politischen Auseinandersetzungen kann es aus strategischer Perspektive ein im obigen Sinne nützliches „Nahziel“ sein, Verstöße dieser Instanz anzuprangern und die Einhaltung oder Durchsetzung von Prinzipien zu fordern, denen sie angeblich verpflichtet ist, um sie so in die Defensive zu drängen. Allerdings sollten wir dabei das Rechtswesen nicht ernster nehmen als seine Begründer selbst: So wie das Bürgertum letztlich ein taktisches Verhältnis zum Recht hat, sollten wir es eben auch nur als Mittel zum Zweck in sozialen Konfrontationen betrachten.

Recht ist kein systemkritischer Begriff: Rechte regeln grundsätzlich in allen gesellschaftlichen Bereichen, wem was (nicht) zusteht. Genau das wäre jedoch im Namen einer solidarischen Selbstbestimmung zu bestreiten. Auch die Verrechtlichung von Erkämpftem als immer wieder neues Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzung kann zwar ein partieller Erfolg sein, sie ist aber gleichzeitig die Eingrenzung und Regulierung der Bewegung, der Versuch, die (gemeinsame) menschliche Praxis (wieder) einzufangen. Oder um es konkret zu machen: Die Bewegung über Grenzen hinweg, die entgegen dem Recht stattfindet, ist etwas anderes als eine „gesteuerte Zuwanderung“, die den Eintritt einiger weniger durch den Dienstboteneingang ermöglicht. Und selbst auf die einmal erkämpfte Verrechtlichung als Ausdruck des Erfolgs von Bewegungen erhält niemand eine mehrjährige Garantie: Auch das festgehaltene Recht hat ein Mindesthaltbarkeitsdatum, das vom gesellschaftlichen Klima abhängig ist, und wird nicht selten dann gebrochen, wenn es darauf ankäme

GSR – ein staatsreformistisches Projekt

In ihrer Hoffnung auf eine Rechtsgarantie finden sich die GSR-VerfechterInnen immer in dem Dilemma, den utopischen Charakter des Rechtsbegriffs zu behaupten und dabei eigentlich die (staatliche) Durchsetzbarkeit zu meinen. So wird dann letztlich die Sozialstaatsidee zum umkämpften Terrain und der Staat zum potentiellen Verbündeten gegen die Mechanismen einer unkontrollierten, neoliberalen Marktökonomie. Solche Rechte dann global zu fordern, bedeutet wiederum, die grundlegenden Strukturen zu akzeptieren und überdies anzunehmen, das in Europa entstandene System eines sozialpolitisch abgefederten Kapitalismus sei eine für die ganze Welt realistische oder erstrebenswerte Zukunft.

So scheint es auch nur auf den ersten Blick, als könne die Forderung nach globalen sozialen Rechten (die es im Übrigen in Form diverser UNKonventionen schon lange und sehr detailliert gibt), ein Mittel sein, um eine neue transnationale „Konvergenz“ sozialer Bewegungen entstehen lassen. Aber gerade weil eine Norm, da sie allgemein ist, unabhängig vom Einzelfall gelten muss, eignet sie sich nicht als Bezugspunkt für Vorstellungen von weitreichender Pluralität und deren Bezug aufeinander (bzw. Konflikte miteinander). Werden die Forderungen eher allgemein gehalten, wie etwa das „Recht auf Nahrung“, schließen sich weitere Fragen an: Von welcher Art von Nahrung wird gesprochen? Um wieviel Nahrung geht es? Ist es egal, wie die Nahrung hergestellt wurde? Etc. Damit verschwimmt mit der Forderung nach einer Vereinheitlichung durch allgemein gültige Rechte oft die Grenze zu einer Deutungshoheit, was Rechte der anderen sind. Sollten wir nicht eher sagen: »Que se vayan todos« - Haut alle ab? Weg mit den RepräsentantInnen, mit allen, die unseren Platz einnehmen wollen, die in unserem Namen sprechen wollen? Wenn allerdings der Prozess einer planetarischen Befreiung in einem Bündnis mit dem Bürgertum gesucht wird, ist eine aufrichtige Bezugnahme auf Rechte und die Anrufung der „Liberalität“ des Bürgertums nachvollziehbar. Ein Ausweg aus der Schwäche der linksradikalen Bewegung ist dies jedoch nicht. Denn: In der Linken besteht ja kein Mangel an Richtungsforderungen, gemeinsamen Plattformen und dergleichen, sondern vielmehr mangelt es daran, sich auf konkrete gesellschaftliche Widersprüche und die Menschen, die sich in diesen bewegen müssen, einzulassen und Wege zu finden, wie Eigensinn und Widerständigkeit gestärkt und politisiert werden können. Statt uns in Debatten zu verstricken, die seltsam blutleer bleiben und ebenso bald wieder verschwinden (wer erinnert sich noch an die „Aneignungs“-Debatte?), sollten wir uns in die „Alltagskämpfe“ einmischen und die dort hervortretenden Momente von Selbstbestimmung und Selbstermächtigung als Elemente antagonistischer politischer und sozialer Prozesse aufgreifen und verstetigen. In diesem Sinne geht es darum diese Momente des Utopischen als Möglichkeiten eines realen gesellschaftlichen Wandels zu begreifen und zu fördern, und eben nicht um die Idee eines besseren globalen Rechtssystems.




Veranstaltungsort

» Universität Dortmund
Emil-Figge-Str. 50, Dortmund
(Campus Nord)
Erreichbar vom Hauptbahnhof mit der S1
» Anreise


Anmeldung:
BUKO Geschäftsstelle
Nernstweg 32, 22765 Hamburg
Tel.: (+0049) 040/39 35 00
Fax: (+0049) 040/28 05 51 22
» mail[at]buko.info
» www.buko.info
» Online-Anmeldung


Lokales Kongressbüro:
Soziales Zentrum Bochum
Rottstr. 31, 44793 Bochum
Tel.: (+0049) 0234/547 29 58
» kongressbuero[at]buko.info
Öffnungszeiten: Mo: 16-19 h,
Mi: 16-19 h, Fr: 9-12 h


Übersetzung // Translation

Organisation

VeranstalterInnen
» Bundeskoordination Internationalismus
» ASTA der Universität Dortmund

» MitveranstalterInnen
» finanzieller Support
» UnterstützerInnen

 
link zu Buko-braucht-Kohle
dominostein