Kongress buko25
Tatort Globalisierung
Internationalismus nach Seattle, Genua und dem 11. September

Frankfurt/ Main 09. - 12. Mai 2002

 
  

 

Jetzt erst recht!
Fünf Anmerkungen zu Emanzipation und Gewalt in einer anderen Zeit

[ aus: So oder So - Die Libertad!-Zeitung Nr. 10 /Winter 2001, Seite 3 ]

"schweigen wir eine minute, für fünftausend tote? wären wir also allesamt schweigsam reglos jahr für jahr an dreiundachtzig arbeitstagen, von früh bis spät, gedenkend der jahresweit, jährlich, in jedem jahr zwanzig millionen verhungerten. durch kein fenster sind sie geflogen. es war ganz still. machtlos. dezentral."
(14.9.2001, Christian Geissler im deutschlandfunk)

I.

"Nichts wird mehr so sein, wie es war". Diese auf die mörderischen Ereignisse des 11. September 2001 bezogene Aussage war auch Ausdruck von Betroffenheit, von Erschütterung und Angst. Deshalb traf sie der US-Präsident, gekrönte und ungekrönte Häupter in aller Welt, aber auch die Verkäuferin wie der Schuhputzer. Aber noch viel mehr war sie eine drohende Feststellung, die nichts Gutes verheißen konnte.
Seitdem wird Afghanistan zu Staub gebombt und ein heiliger Krieg geführt, der - weil er über die wirkungsvolleren Machtmittel verfügt - den islamischen Dschihad allemal in den Schatten stellt. Das ist nicht aufzurechnen, Schock und Schmach lassen sich nicht ausbügeln. Sie bleiben. Die Rettung des Abendlandes, nein, der gesamten "zivilisierten Welt" steht auf dem Spiel. Sanftmut ist da nicht gefragt. Das denken wir auch so.
Die Weltverhältnisse wurden durch die materielle und visuelle Zerstörungskraft der Angriffe des 11. September erneut gleichermaßen globalisiert wie geteilt: Erstmals waren alle auf der Welt in der einen oder anderen Form Zeuge, Opfer und Vermittlung einer Aktion zugleich. Im Westen fühlten sich "alle" angegriffen, weil in New York nicht nur ein Symbol ökonomischer Herrschaft, sondern auch die Lebensweise im metropolitanen Kapitalismus angegriffen wurde - die nun mal, wie die ethnische, kulturelle und soziale Herkunft der Opfer in den Zwillingstürmen, selbst globalisiert ist; der Süden begriff die Bildern des brennenden Pentagons und des zusammenstürzenden World Trade Centers in erster Linie als Angriff auf "die Anderen", auf diejenigen, die bislang immer nur selbst angegriffen haben.
Der selbstmörderische Angriff auf Zentren US-kapitalistischer Macht und Herrlichkeit in New York und Washington hat eine paradoxe Realität geschaffen: Nichts hat sich verändert und doch alles. Verändert hat sich nichts, weil die Gründe, warum in den vergangenen Jahrzehnten Bewegungen den Kampf aufnahmen - von der Oktoberrevolution, über die antikolonialen Kämpfe, die neue Linke in den Metropolen bis hin zu der internationalen Verweigerung gegen den globalisierten Kapitalismus - in ihrem Wesen unverändert gleich geblieben sind; sich sogar noch potenziert haben. Verändert ist zugleich alles: welche Perspektive gibt es im Süden und im Norden, wohin soll denn die Auflehnung gegen die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse führen, wenn der Aufruhr, die Empörung, auch das Abschütteln der Demütigung nicht einer "neuen globalen Gesellschaftlichkeit" Bahn bricht, sondern nur einer anderen Variante der bereits erfahrenen Barbarei?

II.

Wir haben es im letzten Jahrzehnt mehr als einmal zu hören bekommen: Einschnitt, Umbruch und Zäsur als Kennzeichnung einer jeweils gesehenen, meist unterschiedlich interpretierten, Veränderung der politischen und sozialen Koordinaten. Jetzt gibt es eine Ära vor dem Einsturz der WTC-Türme, und eine danach. Zum Vergleich, der uns Linke interessieren könnte, es gibt keine solche Markierung für den Aufstand in Chiapas oder den G7-Gipfel in Genua. Verglichen wird hier nicht das Leiden, sondern nur die Wirkung als Moment des Umschlages in eine andere Zeit.
Was hebt denn den 11. September gegenüber dem Erstickungstod der emanzipatorischen Bewegungen in aller Welt, dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und dem folgenden mörderischen Nationalismus heraus? Was lässt diesen Angriff aus der Schrecklichkeit der alltäglichen Begleiterscheinungen des wieder eindeutig umfassend globalen Kapitalismus herausragen? Sicher, dass man nur selbst- und menschenverachtend genug sein muss, um die eigene Demütigung und Schmach in einen kurzfristigen Triumph umwandeln zu können; dass man es sein muss, um auf dieser Ebene mit den - hier nur stellvertretend stehenden - USA konkurrieren zu können; auch, dass der Welt und den USA gezeigt wurde, dass diese Supermacht nur temporär aus den vorgehenden Konfrontationen als Sieger hervorgegangen ist.
Auf eine spezifische Art bedeutet der 11. September die Wiederbelebung der Abschreckungslogik, wie sie zwischen der Sowjetunion und den USA praktiziert wurde: die gegenseitige Geiselnahme der jeweiligen Bevölkerung, mit der Drohung mittels von Langstreckenraketen jede Stadt im jeweils gegnerischen Machtbereich atomisieren zu können. Die Hijacker von New York und Washington und die B1-Bomber-Piloten über Afghanistan rekonstruieren die Abschreckungsdoktrin, in dem sie sie aufheben. Angesichts des Fehlens einer realen "Balance des Schreckens" konnte es bei der Drohung nicht bleiben. Nicht für Al Qaida, erst recht nicht für die Vereinigten Staaten. Die, und mit ihnen zumindest alle imperialistischen Staaten, müssen diese "Option" ausradieren; ein Exempel statuieren. Denn "das gefährliche" ist nicht nur die Option, sondern dass sie zumindest gegenwärtig staatenlos ist, also tatsächlich außerhalb der "Zivilisation" steht - eben nicht der "Staatengemeinschaft" angehört.

III.

Was nun uns, letztlich weltweit die Linke betrifft: ihr wurde auf erschreckende Art und Weise das Ende aller Ambivalenzen in der Frage zwangsläufig gewaltförmiger gesellschaftlicher Umbrüche und Revolutionen vor Auge geführt. Der 11. September stellt die "Gewaltfrage" neu. Und das so eindrücklich, unzweideutig wie nie zuvor.
Der "Terror der Schwachen", wie es die italienische Gruppe il manifesto vor 25 Jahren zur Ausweitung der palästinensischen Guerillataktik auf die internationalen Fluglinien formulierte, ist umgeschlagen in die endgültig reaktionäre Ineinssetzung von Unterdrückern und Unterdrückten, von denen "unten" mit denen "oben". Es ist die im wahrsten Sinne des Wortes antiemanzipatorische Konstruktion eines klassenübergreifenden "Subjektes". Es ist also das genaue Gegenteil eines Befreiungsprozesses, dessen Ziel es ist, um es mal so zu sagen, ein historisches Subjekt zu verwirklichen, das mit der "eigenen Sache", den jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Zwecken, die "Sache der gesamten Menschheit" anstrebt. Zumindest ist das die Definition kommunistischer Politik.

IV.

Bei allen Fehlern, zum Teil grauenvollen Vorgängen innerhalb der revolutionären Linken, war die Definition der Anwendung von Gewalt letztlich immer: den Raum für Entwicklungen der Unterdrückten zu öffnen, für die Befreiung aus kapitalistischer Bevormundung, für die Autonomie dieses geschichtlichen Subjektes zu kämpfen. Eingeschrieben selbst in die militärische Strategie und Taktik, zum Beispiel des Guerillakampfes: "Die Herrschenden zu spalten, das Volk zu einen". Und, um mal die Organisation sinngemäß zu zitieren, die die Bewaffnung der Linken in Deutschland zur Politik machte, nämlich die RAF: Der Inhalt der revolutionären Aktion ist es, gegenüber der Totalität der kapitalistischen Gesellschaftsformation genau diese Verhältnisse auf die menschliche Dimension zu bringen, wodurch jene auch begriffen werden: Geschichte sollte damit für alle machbar werden. Und "begriffen" meint hier nicht, die Gründe zu verstehen - was ja beim 11. September kein Problem ist -, sondern den Sinn zu setzen. Gegen die Unvernunft und die Sinnlosigkeit z.B. kapitalistischer Warenproduktion.

V.

Wir erleben eine Situation, in der revolutionäre Gewalt ertränkt wird in einem Meer von gewaltförmigen internationalen, sozialen und ideologischen Konflikten. Ständig, bei Großereignissen wie dem G7-Gipfel in Genua oder irgendeiner mit Waffen durchgeführten Aktion, lauert die Gefahr nicht gegen das herrschende Chaos zu wirken, sondern nur Teil desselben zu sein. Es ist auch eine Sache der Wahrnehmung, der Aufbereitung durch die mediale Bewusstseinsindustrie in den Händen derer, die bekämpft werden. Aber meist ist es nur eine Ausrede dafür, dass der zugrunde liegende Sinn der sozialen Revolte und ihrer Aktion(sform) nur in der Verlautbarung seinen Ausdruck findet; in dem Szenario aus Gewalt und Gegengewalt, Terror und Gegenterror, dagegen unterschiedslos erscheint. Obwohl es sonst zwischen den Kamikazepiloten vom 11. September und den Militanten der Linken kaum eine Parallele gibt - außer, dass die Ersteren historisch auch ein Produkt des Scheiterns der metropolitanen Linken sind -, zwingt hier dieser Angriff auch einer linken Militanz und Gewalt eine Zäsur auf.
Der 11. September und seine Folgen wird die objektiven Bedingungen für emanzipatorische Politik neu definieren. Auch wenn die globalen Unrechtsverhältnisse vorher wie nachher in ihrem Wesen nach unverändert geblieben sind. Das zu betonen, ist zwar richtig, hilft aber nicht weiter. Die Argumente, warum diese Welt keine gerechte ist, sind in den Feuilletons bürgerlicher Zeitungen in der letzten Zeit zumeist in bessere Wort gefasst worden, als dies Flugblätter der Linken vermochten. Es geht um etwas anderes. Denn, ob die "subjektive Seite", also unsere, neubestimmt und gesetzt wird, wird davon abhängen, inwieweit der emanzipatorische Gehalt revolutionärer Gewalt neubestimmt - und damit der Sinn als zentraler Punkt einer "Propaganda der Tat" neu gesetzt wird. Ergreifbar und nachvollziehbar als ein aufbauender Prozess gegen eine Welt der Destruktion; gelebte schöpferische Vernunft als Gegenpol zur kapitalistischen Unvernunft.

Die Redaktion.
www.libertad.de

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